Went to See the Gypsy
Alexandra König, in “HORSTKEINING – SCOOP“, Edition Cantz, 2019
Die Varianten, denen sich Künstler bei der Betitelung ihrer Arbeiten bedienen, reichen von der Verweigerung, die in einem „ohne Titel“ liegt, bis zur Etablierung eines eigenen Betätigungsfelds, das wie bei Martin Kippenbergers „241 Bildtitel zum Ausleihen für Künstler“ sogar auf das Bild selbst verzichten kann. Im aktuellen Werkzyklus von Horst Keining sind die Bildtitel genuiner Bestandteil seiner Bilder. Diese baut er in Schichten auf, die sich wie die verschiedenen Layer eines Computerprogramms überlagern. Werbung, Zeitungsausschnitte, Bildzitate, starkfarbige Muster und Ornamente lassen je nach Aufmerksamkeit und Blickwinkel diese oder jene Ebene deutlich werden. Figuratives scheint ebenso auf, wie Schriftzeichen. Als eine letzte Schicht fügt Keining schließlich die immaterielle Ebene des Titels hinzu.
Die Quellen aus denen er schöpft, sind dabei vielfältig. Mitunter orientiert sich der Titel am Sujet und gibt seinerseits eine Erläuterung zum Dargestellten wie bei dem Bild „Spaghetti“. Erscheinen die gelborange und roten Schwünge zunächst wie die Verfremdung eines Ornaments, verweist der Titel auf den wahren Ursprung, der bei Keining allerdings nicht die Teigware selbst ist. Vielmehr zitiert er einen Ausschnitt aus einem Gemälde des amerikanischen Pop-Art Künstlers James Rosenquist, der das profane Motiv, Dosennudeln, nicht nur als bildwürdig erachtete, sondern in monumentalen Maßstab übersetzte. Keining wählt einen Bildausschnitt aus einem Werk, das in die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts eingegangen ist, verfremdet ihn und fügt mit zitierender Grafik eine weitere Ebene hinzu. Der Abstand zum realen Gegenstand wird vergrößert und gleichzeitig mit dem lapidaren Titel eine Realitätsbehauptung aufgestellt, die das Bild nicht erfüllen will – Ceci n'est pas une pipe.
Auf Keinings Gemälde „Nabokovs Tee“ ist tatsächlich eine entsprechende Szenerie zu erkennen. Denn hinter Farbe und Ornamentik liegt schemenhaft eine gerasterte Fotografie aus dem Jahr 1942, die den Schriftsteller Vladimir Nabokov und dessen Frau Vera beim Tee mit zwei seiner Studentinnen zeigt. Der Bildtitel nimmt hier beschreibend auf die Darstellung der verarbeiteten Fotografie Bezug. Gleichzeitig verweist er auf den Autor, dessen Werk dem Maler immer wieder als Quelle dient. Denn so wie die Bildzitate aus Gemälden verarbeitet Horst Keining auch Sequenzen aus der Literatur in seinen Kompositionen. Als grafische Elemente innerhalb der Bilder und ebenso als Bildtitel. Die Titel „Russisches fleckiges Licht“ oder „Gestalt ohne Schatten“ sind Zitate aus Nabokovs „Das wahre Leben des Sebastian Knight“, einem Roman, indem Nabokov bezeichnender Weise die Geschichten seiner Figuren in einem immer dichter werdenden Geflecht miteinander verwebt. Bild und Bezeichnung haben keine direkte Entsprechung. Sie beziehen sich aufeinander wie es die Elemente innerhalb der Bilder tun. Und so wie der Maler über einen Fundus an Vorlagenmaterial für seine Malerei verfügt, nutzt er die Literatur. Neben Nabokov verwendet er wiederkehrend Texte etwa von Marcel Proust, Arno Schmidt, Daniel Kehlmann oder Bob Dylan. Von letzterem stammt das Lied „Went to See the Gypsy“. Immer wieder greift Keining eine Zeile des Textes heraus, ohne dass sich die so benannten Bilder untereinander thematisch zu einer Gruppe zusammen fügen ließen, geschweige denn sich illustrativ dem Text beugen würden. Horst Keining verbindet vielmehr die Poesie des Liedes durch seine Auswahl Zeile für Zeile mit dem jeweiligen Gemälde und erweitert über den Titel das Bild.