DER BLINDE FLECK 

Text von Stephan Berg, im Katalog “HORST KEINING MARIAKIRCHEN“, Siegburg 2004

Die nach wie vor größte Herausforderung für die Kunst besteht darin, eine eigene Artikulationsform zu finden, die deutlich macht, dass es kein künstlerisches Ziel sein kann, die Welt nachzuahmen, Kunst sich eben aber auch nicht in völliger selbstbezüglicher Verschlossenheit erfüllt. Während die Autonomiedebatten des frühen 20. Jahrhunderts - aus ihrem positiven Avantgardefuror heraus - noch ganz ungebrochen die Möglichkeit beschworen, das Bild zu sich selbst zu befreien und es als Wirklichkeit zu entwerfen, die allein den selbst gesetzten Kriterien folgte, gehorcht der künstlerische Diskurs heute einer Ambivalenzbewegung, in der Bilder stets das Eine und das Andere sind: Verweise auf ihre Eigen-Tümlichkeit ebenso wie schillernde, komplexe Bezugnahme auf die Kontexte, in denen sie stehen. Eben das gilt auch für die Arbeiten Horst Keinings, die auf den ersten Blick so geistkühl, durchrationalisiert und analytisch beherrscht wirken.

Tatsächlich ist Keining ein Wanderer zwischen den Welten, der seine Bilder aus einem systematischen Impuls heraus entwickelt, ohne sie in diesem System einzuschließen. Seit jeher gilt für dieses Werk, dass es den unüberschaubaren Pluralismus unserer Wirklichkeit in klar erscheinende Versuchsanordnungen übersetzt, die sich andererseits wiederum als Ausgangspunkt für neue Verunklärungen entpuppen. So entsteht ein strukturelles Oszillieren zwischen Raum und Fläche, Ordnung und Freiheit, Schrift und Bild, zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem. Nie führt die Malbewegung dabei auf einen ausschließlichen Punkt hin, sondern kreist sozusagen um ihre eigene Ambivalenz zwischen minimal-naher Autonomie und weltzugewandter “Verunreinigung“.

Folgen wir diesem Balanceakt anhand einiger Werkgruppen aus den letzten Jahren. In einer Reihe aus dem Jahr 1996 baut Horst Keining die Bilder aus einer Streifenstruktur auf, die jeweils aus einem Grünton einer Künstlerfarbenpalette gewonnen wird, z.B. Lukas Chromgrün hell oder Goya Permanentgrün dunkel. Allein durch das Motiv des Streifen, das innerhalb der zeitgenössischen Kunst vor allem als Instrument einer für sich selbst stehenden, einfachen und selbstverständlichen geometrischen Bildauffassung gelten darf (man denke beispielsweise an Daniel Buren oder an die frühen Streifenbilder von Frank Stella), scheint der direkte Schulterschluss zu der analytischen Strenge konkreter Kunst vollzogen. Auch Keining Streifen wirken zunächst so, als seien sie völlig mit sich selbst beschäftigt, als loteten sie alleine ihre aus einer Farbe gewonnene Farbdifferenz aus, ohne etwas von uns, vom Draußen, von der Welt wissen zu wollen. Ihre malerische Exaktheit und die Form der Reihenuntersuchung scheinen sie zu einem rein formalen Experiment zu machen. Bei genauerem Hinsehen allerdings zeigen sich winzige, aber wichtige Unregelmäßigkeiten in dieser Hardedge-Malerei. Die Streifenbilder changieren zwischen abstrakter Flächigkeit und subtilem Raumvolumen, ohne sich eindeutig zu entscheiden, ob es in ihnen tatsächlich ein Davor und ein Dahinter gibt. In diesem Spiel, in dem die Oberflächen-Kälte der Tafeln stets von feinsten malerischen Subjektivismen durchdrungen wird, können wir uns nie ganz sicher sein, ob der Fond dieser Malerei wirklich ihr Fond ist, vor dem die dunkleren Streifen stehen, oder ob sich umgekehrt die Streifen in den Bildgrund eingegraben haben und so den Hintergrund nach vorne treten lassen. Zwischen zweidimensionaler, radikaler Selbstbezüglichkeit und raumhaft-skulpturalem Illusionismus wird ein konsequenter Plan sichtbar, aber das System schließt sich nicht vollständig. Es lässt Luft herein, in der man atmen kann.

Dieser Struktur einer sich selbst destabilisierenden analytischen Klarheit folgt auch die Serie LUKAS aus dem Jahre 2000. Keining übersetzt hier die Farbpalette des Farbenherstellers Lukas in eine Malerei, in der es eben nicht darum geht, mit diesen Farben ein Bild zu malen, sondern diese Farben selbst zum Gegenstand der Malerei zu machen. Das Panorama der Möglichkeiten wird ausgebreitet und wir, die Betrachter, sind es, die daraus unsere eigenen Bilder entwickeln können. Dabei wird der scheinbar reine Selbstbezug der Tafeln doppelt durchbrochen: Erstens dadurch, dass der Betrachter vor diesem in die Bildfläche ausgebreiteten Bildfächer stehend, metaphorisch gesehen, selbst zum Maler wird, indem er beginnt, die Farben gedanklich in Beziehung zueinander zu bringen, zu mischen oder mit eigenen Assoziationen aufzuladen. Zweitens durch Einspeisung der realen Produktpalette eines Farbenherstellers in das Reich der reinen Bilder, die die doppelbödige Frage aufkommen lässt, ob wir es hier mit raffinierter Unternehmenswerbung zu tun haben. Das gleiche Oszillieren zwischen Realpartikeln und kühler abstrakter Selbstgenügsamkeit zeigt sich auch in BISAZZA und NEW COMPANIES.

Ausgangspunkt für BISAZZA bilden Mosaikfliesen des gleichnamigen italienischen Herstellers. Für den Malprozess werden als strukturbildende Parameter Plattengröße, Fugenabstand und die Farben der Plättchen übernommen. Die Verteilung der Plättchen dagegen ist frei gewählt. So entsteht eine Mosaikwand, die wie ein Grundkurs in geometrisch-abstrakter Malerei anmutet, wobei sich die Bilder vor akademischer Anämie durch ihren profanen Alltagsbezug und vor reiner Mimetik durch ihre Plättchenstruktur angelegte Abbildlosigkeit schützen. In ihrem spielerischen Wechsel zwischen Aleatorik und Systematik des Bildaufbaus lugt darüber hinaus immer auch eine gute Portion fein dosierter Ironie hervor. Seht her, scheinen die Tafeln zu sagen, so leicht lässt sich die mögliche Autonomie des Alltäglichen und die alltägliche Banalität des vermeintlich Autonomen vorführen. Auch in NEW COMPANIES erscheint die Struktur der Bilder - grün-oval gefasste  unverständliche Buchstabenkombinationen, die an Abkürzungen denken lassen, regelmäßig auf einer hellen Rautenfläche verteilt - zunächst exakt, logisch kalkuliert und doch völlig aleatorisch gewählt. Der Titel der Serie weist dabei den Einstieg ins Bild. Unwillkürlich beginnen wir, die Buchstabenfolgen in mögliche Firmennamen zu übersetzen - natürlich ohne Erfolg, weil es die Firmen schlicht nicht gibt. Während in BISAZZA die reale Produktpalette einer Firma zum Bildmaterial wird, die Wirklichkeit sich also sozusagen in die Abstraktion übersetzt, zeigt uns Keining in NEW COMPANIES, wie leicht ein abstraktes Bildmodell zu einer Möglichkeitsform des Wirklichen werden kann. Das Ergebnis ist eine wechselseitige Destabilisierung von Bild und Wirklichkeit.

Das abstrakt aussehende Bild basiert auf der Realität, das scheinbar von Realität gesättigte Bild verdankt sich reiner Erfindung. Schlussendlich werden so die Bilder selbst zu einer Anhäufung von Lücken und Löchern. Wir sehe Konstruktionen, die von Möglichkeiten, nicht von Gewissheiten reden. Zusätzlich hat Keining für die vermeintlichen Logos und ihre Hintergründe Farben und Strukturen gewählt, die überhaupt nicht zum Image von heutigen NEW COMPANIES passen, und hat darüber hinaus die Bildfläche als All-Over-Struktur angelegt, in der genau das, was jede Firma vor allem anstrebt, nämlich Corporate Identity, völlig verschwimmt.

Wie um diesen Verlust an Substanz zu unterstreichen, hat der Künstler die Buchstaben der Firmen nicht gemalt, sondern ausgespart. Was wie gemalt erscheint, zeigt also in Wahrheit den direkten Blick auf den grundierten Boden des Bildes. Was präsent zu sein scheint, ist in Wirklichkeit eine Lücke. So entsteht ein doppelter semantischer Breakdown: Die Buchstaben bedeuten nicht nur nichts, sie sind auch - ähnlich wie in Keinings Autobildern aus dem Jahre 1997 - gar nicht da.

Diese paradoxale Struktur findet sich in der Serie BEAUTIFUL sowie in TUTTI wieder. BEAUTIFUL basiert auf englischen Adjektiven, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie alle aus neun Buchstaben gebildet werden. Die Worte - beispielsweise  Ephemeral, Deathless oder Heartfelt  - werden zunächst als Körper aus Styropor geschnitten. Gemalt werden dann - in Spiegelschrift - nicht die Buchstaben selbst, sondern deren Körperschatten. So entwickeln die Bilder eine phantomhafte Qualität, da der mühsame Entzifferungsprozess, den der Betrachter aufgrund der spiegelverkehrten schattenhaften Struktur der Buchstaben leisten muss, sich auf einen Text bezieht, von dem wiederum nur der Schatten gemalt wurde. Auch die eminent malerische Serie TUTTI (2001) baut zentral auf der Beobachtung auf, dass es keine perfekte Deckung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem gibt. Wir sehen anthropomorphe vertikale Tafeln, die einen merkwürdig doppelbödigen Blick provozieren. Zunächst lesen wir sie als Bilder, die kreisrunden Aussparungen auf einem milchigen Fond zeigen. Erst auf den zweiten Blick wird klar, dass das eigentliche Bildthema  unter der weißlichen Malhaut liegt. Es sind die in Spiegelschrift auf die Leinwand aufgetragenen Namen von verschiedenen Farben, wie wir sie schon von der LUKAS-Serie her kennen. Die Systematik der Bilder besteht darin, dass die Farben, in denen die Buchstaben gemalt werden, exakt den Farbnamen entsprechen. Schrift und Farbe werden selbstbezüglich ineinander verhakt. Völlig frei gewählt werden die Farben zwischen den Buchstaben. Und auch die hellblaue obere Lasur sowie die kreisrunden Aussparungen stehen in keiner systematischen Verbindung zum Bildinhalt.

Aber was ist überhaupt der Bildinhalt: Er ist eigentlich ein einziges großes Dementi, dass es so etwas wie einen eindeutigen Bildinhalt überhaupt geben könnte. Durch merkwürdige Löcher schauen wir auf Buchstaben, die einen Farbnamen ergeben, der eben in der Farbe dieses Namens gemalt wurde. Aber die Schrift ist nicht nur spiegelverkehrt und vertikal angeordnet, sondern auch fragmentarisch, weil sich die Größe der Buchstaben und das Format der Tafeln nie ändern und deswegen die Farbnamen zum Teil nicht vollständig auf die Tafeln passen. Wir sehen also Fragmente von Bedeutungszusammenhängen, die nicht in erster Linie davon sprechen, wie Bezeichnung und Bezeichnetes sich decken, wie Schrift und Gegenstand miteinander Kongruent werden, sondern von einem strukturellen Auseinanderklaffen, einer Lücke erzählen. Die runden Aussparungen im Bildgefüge erhalten so nahezu eine metaphorische Bedeutung. Sie sind Verweis auf die Löcherigkeit von Systemen, die versuchen, die absolute Kongruenz und Kohärenz von Welt und ihren Bezeichnungen zu beweisen.

In zwei neuen Serien ist Keining dieser Lückenhaftigkeit des Bild- wie des Weltkontextes verstärkt auf der Spur und arbeitet dazu auch beharrlich weiter an einer grundsätzlichen Destabilisierung der scheinbar fest gefügten Verhältnisse zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Neu ist dagegen die formale Methode, mit der das Bildprogramm gespeist wird. Konnte der Düsseldorfer Maler bislang als Adept einer Präzisionsmalerei gelten, die ihre Differenzierungsqualitäten gerade aus den scharf und exakt gezogenen Farbverläufen bezog, so setzt er in DESADE - ZUFÄLLIGE AUSSCHNITTE (2002/3) und  PR (2003) nun ganz auf eine kalkulierte Unschärfe. DESADE zeigt nach vergrößerten Projektionen gemalte Textausschnitte aus der “Philosophie im Boudoir“ des Marquis de Sade in einer á la prima Malerei, die anschließend mit dem Pinsel verwischt wurde. Der Entscheidung für de Sade liegt dabei ebenso die pornografische Exzessivität seiner Texte zugrunde wie deren monomanische Wiederholungsstruktur, die ihre Verwendbarkeit als abstrakte Module befördern. Der deutlich auf den Autor verweisende Titel der Serie zeigt, dass Keining hier bewusst mit dem skandalträchtigen Image des Schriftstellers arbeitet. Die dadurch für den Betrachter in Gang gesetzte Mechanik bewegt sich zwischen den Polen Verführung und Enttäuschung. Unter dem Markenzeichen de Sade verspricht der Text Einblicke in unerhörte Tabubrüche, deren Erfüllung gleich doppelt hintertrieben wird: Einmal durch die Ausschnitthaftigkeit der Textteile, die zudem gerade nicht nach den Kriterien pornografischer “Saftigkeit“ ausgewählt wurden. Zum zweiten durch die Pinselverwischungen, die den Vergrößerten - also eigentlich auf Lesbarkeit zielenden - Text in den dämmrigen Raum mühsamer Mutmaßungen und fruchtloser Dechiffrierung entrückt.

Grundsätzlich ähnlich geht Horst Keining innerhalb der Serie PR vor. Den bläulich unscharfen Bildern liegen beliebig ausgewählte, grob gerasterte  Fotos zugrunde, von denen Details mit dem Makroobjektiv fotografiert wurden. Wiederum wie in DESADE werden dann die Ausschnitte als Dia projiziert und von dort auf die Leinwand übertragen. Die Unmöglichkeit, auf diesen Bildern etwas Präzises zu erkennen, ist für den Betrachter dabei vor allem deswegen frustrierend, weil die bläuliche Färbung der Bilder und ihre Punktrasterstruktur auf ihre Herkunft aus einem medialen Bereich verweisen, der eben durch klare Sichtbarkeit und detaillierten Informationsgehalt ausgezeichnet zu sein scheint. In Keinings Formulierungen wird daraus ein bewegtes Rauschen, ein rasant vorbeiziehender Schleier aus schwarzen Löchern, deren In-Formationsgehalt aus nichts weiter als aus ihrer eigenen Leere besteht. In DESADE und PR werden also die inhaltlichen Grundlagen der Serien zu Ködern für den sowohl allen Bildern wie uns als Betrachtern eingebauten Zwang, sehen zu müssen. Indem die Bilder diesen Akt des Sehen-Müssens kalkuliert anheizen, schaffen sie gleichzeitig die Fallhöhe, von der aus die Enttäuschung, dass es nichts zu sehen gibt, umso positiver funktioniert. Insbesondere bezogen auf die maschinelle Mechanik der de sadeschen sexuellen Exzesse reflektiert der Maler damit auch den explizit dessen Texten eingebauten Voyeurismus, der gerade deswegen schließlich ins Leere läuft, weil alles bis ins letzte Detail offengelegt wird. In gewisser Weise spiegelt sich so in der mitleidlosen pornografischen Detailschärfe de Sadescher Texturen die opake inhaltsleere Unschärfe der Textbilder Horst Keinings. Konträr ist nur das Verfahren: Wo der blinde Fleck des uniformierten Bildtextes bei Keining aus der Ausschnitthaftigkeit und Verwischtheit entsteht, stellt er sich bei de Sade als (ungewollte) Folge der Übergenauigkeit, der Hyper-Informierung des Textes ein. Schlussendlich sehen wir also hier, wie aus der Unordnung der pluralen Wirklichkeit eine Bildformulierung entsteht, die völlig darauf verzichtet, Kategorien wie Verlässlichkeit, Übersicht oder Klarheit überhaupt noch zu versprechen. Am Ende stehen wir vor der Erkenntnis, dass nicht nur die Welt, sondern auch die Bilder nicht nur bodenlos, sondern dazu noch flüchtig und ephemer sind. Das mag keine besonders beruhigende Erfahrung sein, aber, sie hat den Vorteil, der Wirklichkeit nahe zu kommen.