Das Gehirn sieht und das Auge denkt

Dirk Steimann, in “HORSTKEINING – SCOOP“, Edition Cantz, 2019

„Nach einem Jahrhundert, in dem jeder erdenkliche Aspekt der Gegenständlichkeit diskutiert worden ist, gibt es keine Bilder mehr, auf denen einfach „etwas drauf“ ist.“ / „Die Malerei bringt alle unsere Kategorien durcheinander, indem sie ihre Traumwelt körperlicher Wesenheiten, wirksamer Ähnlichkeiten und stummer Bedeutungen entfaltet.“

So selten, wie Horst Keining aus dem unmittelbar Erlebten schöpft, so häufig schöpft er aus jenen Medien, die als Ausdrucksformen zeitgenössischen Lebens weithin zirkulieren. Hierbei handelt es sich meist um von anderen, von anonymen Urhebern geschaffene Bilder aus kunstfernen Quellen. Keining bedient sich gleichermaßen fotografischen und digitalen ‘Vor-Bildern’, Zeitungs- und Magazinabbildungen ebenso wie Video- und Filmstills.

Es handelt sich also um Bildmaterial, das einerseits in einem bestimmten Kontext entstanden ist und wahrgenommen wurde, und das andererseits schon einem Veränderungsprozess unterzogen wurde. Dieser Vorlage, die dem gemalten Bild voraus geht, wird so der Status einer Skizze zuteil. Bei diesen Skizzen handelt es sich bereits um ‘künstliche’ Bildwelten, bei denen der gesehenen Wirklichkeit ein fester Rahmen oder ein Filter übergestülpt wurde. Doch auch diese sind Teil unserer visuellen Realität. Anhand dieser wird erkennbar, dass hinter den unterschiedlichen Motivwelten weniger Zufall und Beliebigkeit, sondern vielmehr eine zielgerichtete Suche steht. Eine Suche, die sowohl überkommene Traditionen der Malerei reflektiert, als auch ‘moderne’ Ansätze in Frage stellt und im glücklichsten Fall neu formuliert. Mit einer solchen Vorgehensweise vermag Horst Keining es, selbst auf die trivialsten Bereiche unserer visuellen Gegenwartskultur zurückzugreifen und diese souverän in Malerei zu transformieren.

Ein weiteres Kennzeichen der Arbeiten Horst Keinings ist es, dass diese überwiegend als Serien oder in Werkgruppen gegliedert entstehen. Zwar steht jedes einzelne Werk durchaus für sich, es kann aber ebenso in einem Kontext zu dem vorherigen und zu dem folgenden Bild gesehen werden. Jede Einzelarbeit steht damit in einem Dialog zu einem vorangegangenen oder noch kommenden Werk. Hierin zeigt sich auch, dass die Eindeutigkeit einer Fragestellung innerhalb eines Werkes nicht zwangsläufig eine Einseitigkeit des Mediums erfordert, sondern dass mit der Vielschichtigkeit eines Werkes die ihm immanente Spannung gesteigert wird. Oftmals erschließt sich erst auf einen zweiten oder gar dritten Blick die besondere Arbeitsweise Keinings, nämlich die variationsreich eingesetzten Maltechniken und die davon nicht zu trennende, subtile Farbigkeit. Vor allem der Farbauftrag in Form von partiell aufgebrachten Sprühnebeln und der gleichzeitige Einsatz von mit dem Pinsel aufgetragenen Kunstharzfarben, führen zu einer bewusst gesetzten Unschärfe. Diese, aber auch das Fokussieren des Bildmotivs, das Scharfstellen und Stillstellen von Flimmerphänomenen, führt außerdem zu einer erweiterten ‘Wahrnehmungsmechanik’ seitens des Betrachters. Horst Keining lotet so die Möglichkeiten der Malerei zwischen Figur und Grund, Abstraktion und Gegenstand, Ornament und Schrift aus. Dies vollzieht er nicht nur in dem Wissen um die Vielzahl von Bildern, welche die Geschichte der Malerei bereits geliefert hat, sondern auch mit einem grundlegendem Erfahrungswissen um die nahezu unerschöpflichen technischen Möglichkeiten, die ihm die Geschichte der Kunst zur Verfügung stellt. So entzieht sich bei ihm das Motiv einer ‘klassischen’ bildnerischen Darstellung und wird zu einer subjektiven Bestandsaufnahme einer ‘Bildsituation’, die niemals fixiert erscheint.

Seit mehreren Jahren setzt Horst Keining in bestimmten Bildern Schrift als Bildelement ein. Hierbei werden unterschiedliche Folien zum Teil mehrfach und einander überlagernd auf die Leinwand projiziert. Durch die Überlagerung der einzelnen Elemente ergeben sich in den Bildern zwei oder mehr Ebenen. Zum Beispiel schwebt ein stark konturierter Schriftzug im Vordergrund vor einer ornamentalen, unscharfen Arabeske auf einer ‘tieferen’ Bildebene. So wie der gesprühte Farbauftrag zu einer Unschärfe der Konturen führt, so verstärkt das Übereinanderlagern von Bildbestandteilen diese zusätzlich.
Diese Komplexität wird um ein weiteres Mal gesteigert, indem Keining in seine Bilder Worte und Begriffe einstellt, die unterschiedlichen Sinnzusammenhängen entstammen. So wird ihnen eine zentrale Rolle im ‘Bildgeschehen’ zuteil: Der Begriff beherrscht die Bildfläche. Die derart platzierten Zeichen sind getextete und symbolische Botschaften, die das bildnerische Vokabular erheblich erweitern, indem sie in nur einem Augenblick Sinnkomplexe aus Hunderten von Assoziationen kommunizieren.

Horst Keining richtet sich direkt an das Auffassungsvermögen des Betrachters, wenn er mit zahlreichen Referenzen und Verweisen das Spiel mit kulturell geprägten Zeichen und Bildern zu kaum fassbaren Codes, beziehungsweise Samples, verbindet. Einerseits ist er nicht daran interessiert, Geschichten zu erfinden, andererseits geht es ihm um den Reiz der Oberfläche, wie ihn nur die Malerei möglich sein lässt. Insofern haben wir es mit einer Bestandsaufnahme künstlerischer Dispositionen im Hinblick auf Malerei zu tun. Keining setzt auf die Macht von Bildern. In der Verbindung von flächenbetonter Malerei und einzelnen Begriffen, in der Anordnung und Überlagerung der verschiedenen Motive und Bildebenen wird der Betrachter zu einem kursorischen Blick, zu einem ‘assoziativen Sehen’ gezwungen. So wäre es viel treffender, angesichts dieser Arbeiten von einem ‘visuellen Begreifen’ zu sprechen, da er dem Betrachter nicht bloß ein Wahrnehmungsangebot unterbreitet, sondern im Wortsinne ‘zu sehen’ gibt. Die Integration von Sprache in die Malerei besitzt hier durchaus unterschiedliche Funktionen. Einerseits ist die Aufnahme von Schrift ins Bild ein ‘Zitieren’ von Realitätsfragmenten, andererseits ‘bloß’ ein Verweis auf die Zweidimensionalität der Bildfläche. Sie wirkt als Kommentarebene, sie erhält den Status einer Erweiterung, sie stellt Beziehungen her zwischen dem Bild und Bereichen jenseits von ihm.

In der Konsequenz hieraus ließe sich sagen, dass, um den neuen Bildern Keinings mit ihren Wort-Bild-Kombinationen gerecht zu werden, ‘Sehbewegung und Denkbewegung’ eins werden müssen, da der über die zweidimensionale Leinwandoberfläche schweifende Blick der Betrachters ein ‘sehendes Denken’ oder ‘denkendes Sehen’ evoziert. Denn visuell dargestellte kulturelle Gehalte werden stets mit Hilfe von Sprache dekodiert. So ist hier auch Marcel Duchamp nicht fern, der äußerte, dass er an Ideen interessiert sei und nicht bloß an visuellen Produkten. Was für alle Beispiele gilt: Ob lesbar oder nur als Geste – Die Verbindung von Bild und Schrift beschwört den Augenblick herauf, in dem Inhalt sichtbar wird, und sie bildetet einen ‘abstrakten’ Verweis auf eine außerbildliche Realität. In diesem Sinne verstanden, lassen Horst Keinings Arbeiten dieser Werkgruppe es nur bedingt zu, vollständig aufgeschlüsselt im Sinne von ‘gelesen’ zu werden. Im Gegenteil, es erscheint naheliegender, dass sich das Erkenntnisinteresse dieses Künstlers nicht auf den Gegenstand der Malerei allein, sondern auf die Malerei als Gegenstand richtet.

Martin Mosebach, Die malerische Malerei. Ein Dialog: Über Maßstäbe zur Betrachtung neuer gegenständlicher Kunst, in: ders., Du sollst dir ein Bild machen. Über alte und neue Meister, Springe 2005, S. 74
Wilfried Dickhoff, Für eine Kunst des Unmöglichen, Köln 2001, S. 34
Wolfgang Max Faust, Nachwort, in: ders., Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur, Köln 1987, S. 229